Solidarisch Mensch werden

10 Kernthesen des Buches

Ulrich Duchrow, Reinhold Bianchi, René Krüger, Vincenzo Petracca, Solidarisch Mensch werden - Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus. Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006, 510 S., VSA-Verlag und Publik-Forum-Verlag, ISBN 3-89965-167-7, 19,80 €


1. Der Neoliberalismus führt zu einer immer schärfere Spaltung der Menschheit in sozioökonomische Verlierer und Gewinner: sowohl global gesehen zwischen der südlichen und der nördlichen Hemisphäre als auch in den Ländern sowohl des Nordens als auch des Südens selbst.

2. Bei den Verlierern dieser Entwicklung wird das Selbstwertgefühl durch Massenerwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung schwer beeinträchtigt. Diese Traumatisierungen werden dadurch verstärkt, dass die Betroffenen selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden. Hier spricht die Psychologie vom Viktimisierung: Die Opfer werden ein zweites Mal zu Opfern gemacht.

3. Die Gewinner erliegen der Hab-Sucht, d.h. der Sucht immer mehr haben zu wollen. Der dadurch genährte Narzissmus verführt viele dazu, ihre eigene Größe durch die Erniedrigung anderer zu steigern. Das stärkt sie in ihrer paranoiden Selbsteinschätzung. Ihre Gesamtpersönlichkeit spaltet sich in ein sentimentales Ich (im privaten Leben) und ein brutales Ich (im öffentlichen Leben). Dies kann man beispielsweise an vielen Spitzenmanagern beobachten.

4. Im Industriekapitalismus erkämpften die Beschäftigten (des Nordens) eine soziale Regulierung der Wirtschaft durch den Sozialstaat. Die globalen Finanzmächte unterwerfen indes das gesamte Leben wieder der Logik der Kapitalvermehrung und benutzen den Staat nur als Sicherungsinstrument für die Eigentümer. Durch Steuerflucht und Niedrigsteuern fehlen der öffentlichen Hand die Mittel zum sozialen Ausgleich.

5. Weltweit spaltet der Neoliberalismus gerade die Mittelklassen in eine Mehrheit von Verlierern und eine Minderheit von Gewinnern. In Argentinien gehörten vor der Einführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik 60 Prozent zur Mittelklasse, danach 60 Prozent zu den Menschen unterhalb der Armutsgrenze. In Deutschland kommt die Abstiegsangst der Mittelklassen durch die sog. Hartz IV-Gesetzgebung: alle, die aus den Mittelklassen strukturell erwerbslos werden, drohen in die Unterschichten abzusinken.

6. Die Mittelklassen orientieren sich durch ihre Herkunft und Geschichte nach oben. Dies ist mit dem illusionären Bewusstsein verbunden, die Ursache ihrer Misere liege nicht bei den Oberschichten, sondern bei ihnen selbst oder bei Sündenböcken wie Ausländern und Ausgegrenzten. Es ist schwierig, Solidarität zwischen den Mittelschichten und Hartz IV-Empfängern zu organisieren, weil die Mittelschichten bis dato kleine Privilegien annahmen, damit sie sich nicht mit den Unterschichten verbündeten.

7. Die Beziehungs-Psychologie erklärt, weshalb Menschen eher mit Selbstzerstörung reagieren als sich gegen soziale Bedrohungen aufzulehnen: Wenn Babys von der Mutter Frustrationen erfahren, spalten sie das erfahrene Böse von der Bezugsperson ab und nehmen es in sich selbst auf. Sie idealisieren das Gegenüber, weil es für sie seelisch leichter zu ertragen ist, selbst böse zu sein, als dass die Bezugsperson, auf die sie auf Gedeih und Verderb angewiesen sind, als Bedrohung erscheint. Dieses pathologische psychische Muster kann man auch auf gesellschaftliche Entwicklungen übertragen, denn frühkindlichen Beziehungsmuster werden durch die Erfahrung von sozialen Bedrohungen wiederbelebt.

8. Durch wirtschaftlichen Zusammenbruch (so in Argentinien) oder durch soziale Bewegungen kann es dennoch zu einer Solidarisierung der Mittelklassen mit den Unterschichten kommen. Die Kirchen nehmen hierbei eine wichtige Stellung ein. Im Süden haben die Kirchen den neoliberalen Kapitalismus verworfen und aufgerufen, an der Seite der sozialen Bewegungen für eine Wirtschaft im Dienst des Lebens zu kämpfen.

9. Im Norden könnten die Kirchen ihre historische Verbindung zu den Mittelklassen nutzen, um einen speziellen Arbeitsbereich „Mission an der Mittelklasse“ einzurichten. Wenn es den Kirchen bei sich selbst gelänge, die Illusion zu überwinden, wir hätten noch die soziale Marktwirtschaft als leitendes Politikziel, müßten sie in der theologischen Tradition der Option für die Armen und Schwachen an der Seite der neoliberalen Verlierer kämpfen. Stellten sie sich tatsächlich an die Seite der Verlierer, hätte dies eine große strategische Bedeutung für die Überwindung des Neoliberalismus.

10. Die Bibel ist voller Bilder, die zur Heilung und Befreiung beitragen können. Angefangen von der Befreiung der hebräischen Sklaven aus Ägypten über die Botschaft der Propheten und der Tora bis hin zu Jesu Vergegenwärtigung des Reiches Gottes findet sich ein roter Faden: Gottes Wirken für Gerechtigkeit. Er befreit zu Leben in gerechten Beziehungen und in lebensfähigen Gemeinschaften. In diesem Geist der Gerechtigkeit können atomisierte, in sich selbst verkrümmte, konkurrierende Individuen psychisch und sozial geheilt werden und zu solidarischen Menschen werden.

Zurück zur Hauptseite